Eine besondere Freundschaft zwischen zwei Mädchen, welche die Grenzen von Raum und Zeit überwindet, offenbart eine tragische Familiengeschichte, die ihre Schatten über mehrere Generationen hinweg auf die Nachkommen geworfen hat, und legt den Grundstein zur Heilung eines schwerwiegenden Traumas.
Wenn ich „Erinnerungen an Marnie“ in einem Satz beschreiben müsste, dann würde ich diese Worte wählen. Es handelt sich um den letzten Animationsfilm von Studio Ghibli, welcher 2014 in Japan erschien und ein Jahr später Einzug in die deutschen Kinos fand. Er basiert auf dem britischen Roman „When Marnie Was There“ (deutscher Titel: Damals mit Marnie – Glückliche Ferien am Meer) aus dem Jahr 1967, entsprungen aus der Feder der Kinder- und Jugendbuchautorin Joan G. Robinson. Die Verfilmung orientiert sich dabei weitgehend an der Romanvorlage, wobei das Geschehen von England nach Japan verlegt wurde. Dementsprechend wurden die Namen der meisten Charaktere geändert, ausgenommen die der beiden weiblichen Hauptfiguren.
In dem Film werden wir Bekanntschaft mit der zwölfjährigen Anna machen. Einem Waisenmädchen, dem es besonders schwerfällt, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen. Sie fühlt sich als Außenseiterin, nirgendwo zugehörig und verbringt daher die meiste Zeit allein. In der Hoffnung, dass die frische Meeresluft ihrer Erholung dienlich sein könnte, wird sie nach einem schweren Asthmaanfall von ihrer Adoptivmutter zu ihren Stiefverwandten geschickt. Beim Erkundigen der neuen Gegend entdeckt sie in einer Marslandschaft eine verlassene Villa, zu der sie sofort eine magische Anziehungskraft verspürt. Von ihrer Faszination geleitet trifft sie dort auf die lebhafte Marnie, einem blonden Mädchen, das mit ihren wohlhabenden Eltern in dieser Villa zu wohnen scheint. Die beiden freunden sich schnell an und verbringen viel Zeit miteinander, während Annas verschlossenes Herz sich seit ihrer Begegnung nach und nach öffnet.
Doch die schönen Momente finden bald ihr jähes Ende. Während eines heftigen Gewitters finden die beiden Zuflucht in einem Silo. Als Anna aufwacht, stellt sie enttäuscht fest, dass von Marnie jegliche Spur fehlt. Die bittere Erkenntnis, dass ihre Freundin sie in dem Silo allein zurückgelassen hat, lässt sie unweigerlich die schmerzhaften Erinnerungen an ihre Vergangenheit wiederaufleben, als ihre Eltern sie verlassen haben. Ihr frühzeitiger Tod hatte Annas Innenleben fundamental getrübt. Verbitterung und Einsamkeit hatten sich in ihrem Herzen eingenistet und ihr Leben fest im Griff. Geplagt von dem Gefühl, von Marnie hintergangen worden zu sein, sucht sie die Konfrontation mit ihr und begibt sich zum Marschhaus. Noch ahnt sie nicht, dass diese Begegnung die letzte sein wird…
Wer an dem Ausgang der Geschichte interessiert ist, kann sich gerne an unserem Bestand bedienen und eine DVD stibitzen. Natürlich nur mit einem Bibliotheksausweis. 😉 Wenn euch noch genug Ausdauer beim Lesen geblieben ist, könnt ihr die letzten Zeilen dranbleiben und von meinem Eindruck erfahren.
„Erinnerungen an Marnie“ erzählt eine sehr berührende Geschichte über die Freundschaft von zwei Mädchen, die unterschiedlicher nicht sein können und Anna dabei hilft, sich von ihren Zwängen zu befreien. Fast zu schön um wahr zu sein, denn der Auftritt Marnies ist von Rätseln umgeben. Es kommen schnell Zweifel auf, ob das blonde Mädchen tatsächlich existiert und womöglich eine imaginäre Gestalt ist, die Anna in ihrem Unterbewusstsein selbst kreiert hat, um ihre seelischen Verletzungen aufzuarbeiten. Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass sie die Ereignisse träumt. Zwar wird Marnies Identität und damit auch die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden am Ende des Films enthüllt, aber ihr wahres Wesen bleibt ein Mysterium und lässt dem Publikum Raum für eigene Interpretationen.
Als Protagonistin macht es Anna dem Publikum nicht gerade leicht, sie zu mögen. Oft bemitleidet sie sich selbst, obwohl es dem Anschein nach keinen Grund dafür gibt und ist aufgrund ihres verzerrten Selbstbilds nicht in der Lage zu erkennen, dass der Großteil der Mitmenschen ihr wohlgesonnen ist. Ihr Verhalten ist für uns Außenstehende schwer nachvollziehbar, weil wir zu dem Zeitpunkt nicht wissen, was die Wurzel ihres Problems ist. Folglich macht sie zu Beginn einen unsympathischen Eindruck. Wer sich aber auf den Film einlässt, wird im weiteren Verlauf die Tragweite ihres Problems erkennen und Aspekte ihres Verhaltens verstehen können.
Was die Darstellung der Freundschaft angeht, hätten sich die Macher vielleicht etwas zurücknehmen können, denn bei den Interaktionen könnte man meinen, dass da eine gewisse romantische Komponente mitschwingt, obwohl das nicht im Sinne der Auflösung am Ende des Films liegt. Nichtsdestotrotz lohnt es sich einen Blick auf das Abschlusswerk des japanischen Animationsstudios zu werfen. Der Film beeindruckt mit malerischen Kulissen, einer – wie ich empfinde – sanften, idyllischen Musik, und entfaltet, kombiniert mit einem gemächlichen Erzählstil, seinen eigenen geheimnisvollen wie märchenhaften Charme. Es ist dieses nuancierte Schwanken zwischen Traum und Wirklichkeit, das mich als Zuschauerin in den Bann gezogen hat.
Wer auf der Suche nach einer tiefgründigen Geschichte ist, wird in „Erinnerungen an Marnie“ einen wunderschönen, aber zugleich traurigen Film über Freundschaft, Familie und Vergebung finden.
Er zeigt auf wie traumatische Erfahrungen unser Wohlbefinden und unsere Weltsicht (unbewusst) prägen können, wie sich diese sich auf den Umgang mit anderen Menschen auswirken und wie schwer das Loslassen sein kann. Eine melancholisch angehauchte Geschichte, die ans Herz geht und nach dem Abspann eine Faszination beim Publikum hinterlässt, die man schwer in Worte fassen kann. Eine Empfehlung an alle, die etwas Unvergessliches erleben möchten, keine Scheu vor Herzschmerz haben und sich nach einer Katharsis sehnen, bei der wortwörtlich der Himmel aufklart!
Nalan, Auszubildende im 2. Lehrjahr
Informationen zur DVD
Titel: Erinnerungen an Marnie
Regie: Hiromasa Yonebayashi
Genre: Drama
Spielzeit: ca. 98 Minuten
Signatur: Kinderfilm Erin
Verfügbar in allen Standorten außer in der Stadtteilbibliothek Halemweg.